Die Muslime haben den Neoliberalismus in sich aufgesogen

Leben Weltweit

Die immer weiter voranschreitende Sozialisierung der muslimischen Gemeinschaft in der Ideologie des Marktes ist so offensichtlich wie erschreckend.  Die größte Täuschung, die man einem Volk vormachen kann, besteht darin, es von seiner Autonomie zu überzeugen, während man gleichzeitig jeden Aspekt seines Lebens manipuliert; und so liegt der Mensch überall in Ketten, während er sich für frei hält, wie Rousseau es ausdrückte.

Wäre Rousseau heute am Leben, würde er sich wahrscheinlich an den Kopf fassen und sich fragen, wie alles so schief laufen konnte. Sein eigenes Versagen bestand im Wesentlichen darin, dass er dazu beitrug, das Fundament für eine Ideologie zu legen, die so unterdrückerisch und subversiv ist, dass es fraglich ist, ob wir jemals wirklich in der Lage sein werden, uns von ihr zu befreien.

Ich habe das Wort „Ideologie“ schon ein paar Mal erwähnt, und für die Leser, die nicht sicher sind, was ich meine, können wir es synonym mit dem Wort „Idee“ verwenden. Jedes  Individuum mit Bewusstsein wird in seinem Handeln durch eine Idee geleitet. Der Science-Fiction-Film „Inception“ ist in seiner Dramaturgie surreal. Aber er lenkt die Aufmerksamkeit auf die Macht der Suggestion und spiegelt eine Realität der menschlichen Erfahrung wider, in der diejenigen, die in der Lage sind, Ideen in das Unterbewusstsein von Individuen zu pflanzen, die Art und Weise verändern, wie Menschen denken und auf die Welt wirken. Ich behaupte, dass die Hauptidee, die unser Verhalten als muslimische Gemeinschaft im Allgemein beeinflusst, sicherlich nicht der Islam ist, sondern genau sein Gegenteil.

Vielen von uns fällt es schwer zu verstehen, wie dies der Fall sein kann. Das gilt besonders für diejenigen unter uns, die regelmäßig am Gemeinschaftsgebet und an islamischen Zirkeln teilnehmen, viel Zeit mit dem Lesen des Korans verbringen und häufig Almosen geben. Meine Behauptung, dass wir oft gegen den Geist und die Werte unseres Glaubens verstoßen (wenn auch unwissentlich), wirkt also verständlicherweise für viele beleidigend. Deswegen möchte ich zur Veranschaulichung Beispiele für diese Verstöße und Zuwiderhandlungen aufzeigen und erklären, warum wir sie begehen. Obwohl es eine Reihe von Beispielen gibt, die diskutiert werden könnten, wollen wir der Kürze halber die folgenden zwei betrachten.

Das erste Beispiel ist die Art und Weise, wie wir Kleidung konsumieren. Viele westliche multinationale Modemarken haben Fabriken in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit wie Pakistan, Bangladesch, Indonesien und Ägypten errichtet. Ihre Beweggründe für die Ansiedlung in Entwicklungsländern anstatt in ihren eigenen sind vielfältig, aber vor allem geht es um das lockere oder nicht existierende Arbeitrecht in den jeweiligen Ländern. So können sehr billig einheimische Arbeitskräfte beschäftigt werden. Diese Marken nutzen oft die Armut ihrer Arbeiter aus und lassen sie lange Stunden und unter Bedingungen arbeiten, die wir für uns selbst nie akzeptieren würden.

Außerdem verschmutzen diese Konzerne oft die Flüsse der Regionen, in denen sie sich niedergelassen haben, mit giftigen Abwässern. Nehmen wird das bekannte Beispiel des Citarum-Flusses in Indonesien, auf den über 2,8 Millionen Menschen der einheimischen Bevölkerung angewiesen sind. Sie benutzen das Wasser des Flusses zum Waschen, Reinigen und Trinken. Die zahllosen Textilfabriken flussaufwärts und flussabwärts haben täglich literweise Abwasser in den Fluss geleitet, was dazu geführt hat, dass die Einheimischen nun unter chronischen Krankheiten leiden und viele von ihnen tragischerweise sterben, weil sie das verschmutzte Wasser zu sich nehmen.

Wahrscheinlich gibt es durchaus eine große Anzahl von Muslimen, die sich über das ausbeuterische Vorgehen der Modeindustrie nicht bewusst ist. Aber es gibt auch viele, die sich dessen bewusst sind und sich nicht an dem Gedanken stören, dass sie durch ihr Konsumverhalten anderen Schaden zufügen. Wir müssen die ganze Bandbreite an Unterdrückung erkennen, die es gibt. Die muslimische Gemeinschaft konzentriert sich oft auf die Unterdrückung, die die Rohingya oder die Palästinenser erfahren, als ob es keine andere Unterdrückung in der Welt gäbe – aber die gibt es sehr wohl. Unser Glaube fordert uns auf, gegen jede Art von Unterdrückung aufzustehen. Einige prophetische Überlieferungen gehen so weit, dass sie uns im extremsten Fall auffordern, gegen unsere eigenen Brüder und Schwestern zu kämpfen, wenn sie andere unterdrücken. Das klägliche Versagen vieler Gelehrter – und der „praktizierenden“ Gemeinschaft im Allgemeinen – Unterdrückung auf den Märkten anzuprangern, ist zutiefst beunruhigend.

Das zweite Beispiel hilft uns zu verstehen, wie die Entscheidungen, die wir im Leben treffen, von eben der Ideologie untergraben werden, die uns anweist, auf so unbekümmerte Weise zu konsumieren. Eine Generation wohlhabender Muslime, die die entmutigenden Zustände in den Madrasas oder Moscheeschulen mit eigenen Augen gesehen hat, war fest entschlossen, ihre Kinder nicht in dieselben Einrichtungen zu schicken. Stattdessen haben viele ihre Kinder entweder auf islamische Privatschulen geschickt oder haben Privatunterricht persönlich oder über das Internet organisiert. Während die Absichten dieser Eltern lobenswert sind, weil sie das Beste für ihre eigenen Kinder sicherstellen wollen, haben sie anscheinend nie einen Moment an die anderen Kinder gedacht, die sie zurücklassen. Sie haben nie daran gedacht, dass die Eltern dieser Kinder, von denen viele nicht die finanziellen Möglichkeiten haben, einen Privatlehrer zu bezahlen, keine andere Wahl haben werden, als ihr Kind in eine Madrasa zu schicken, wenn sie wollen, dass es den Koran lernt.

Ich möchte nicht behaupten, alle Madrasas wären schlecht geführte Einrichtungen (und eine Reihe von ihnen sind es auch nicht), aber darum geht es gar nicht. Wenn wir mit islamischen Werten sozialisiert und diese fest in uns verankert worden wären, hätten wir niemals, weder bewusst noch unbewusst, auch nur eines unserer Kinder zurückgelassen. Wir hätten daran gearbeitet, die vorhandenen Institutionen zu verbessern oder alternative Institutionen zu schaffen, die für alle funktionieren. Oft sind gerade die Eltern, die es sich leisten können, ihre Kinder aus dem Madrasa-System herauszunehmen, diejenigen, die das finanzielle und (noch wichtiger) das kulturelle Kapital besitzen, um Veränderungen zu bewirken.

Es ist offensichtlich, dass die meisten Muslime niemals bewusst die Absicht hätten, anderen in irgendeiner Weise zu schaden, dennoch gibt es diejenigen, die bereitwillig Ausreden finden, um in den Strukturen der Unterdrückung zu verharren. Dies mag aus Bequemlichkeit geschehen oder, was noch beunruhigender ist, weil ihr Streben nach Vergnügen Vorrang vor ihrem Gewissen hat. Wir müssen uns fragen: Wie können wir erwarten, dass Allah uns gnädig ist, während wir weiterhin die Rechte anderer verletzen? Die Überlieferung unseres edlen Gesandten (sall Allāhu ‚alayhi wa sallam) ist klar und unzweideutig:

   „Ein Muslim ist der Bruder eines anderen Muslims. Er fügt ihm kein Unrecht zu…“ [1]Sahih Muslim

Allah, der Erhabene, spricht auch allgemeiner über Unterdrückung in einem Hadith Qudsi:

  „O meine Diener, Ich habe die Ungerechtigkeit für mich selbst verboten und Ich habe sie unter euch verboten, also fügt euch gegenseitig kein Unrecht zu.“[2]Sahih Muslim

Die Art und Weise wie unser Verstand hinsichtlich bestimmter Ideen sozialisiert wurde, lenkt letztendlich unsere Entscheidungen und unser Verhalten. In unserem Fall ist diese Idee der Neoliberalismus; eine Ideologie, die davon ausgeht, dass die Gesellschaft im Idealfall durch die Etablierung deregulierter und durch Eigeninteresse bzw. Egoismus angetriebene Märkte sowie durch eine möglichst geringe Beteiligung des Staates funktioniert. Laut dieser Idee sind Menschen in erster Linie Konkurrenten um Ressourcen und keine Kooperateure. Die Architekten dieser Ideologie waren Denker wie Lippmann, Hayek und Friedman, die aufrichtig eine Gesellschaft anstrebten, in der das Eigeninteresse den Einzelnen dazu antreibt, Wohlstand durch Handel bzw. Arbeit zu erlangen. Mehr Wirtschaft würde mehr Arbeitsplätze, weniger Arbeitslosigkeit und weniger Armut bedeuten. Mehr Wirtschaft würde auch mehr Wettbewerb bedeuten, was die Preise senken und für die Verbraucher von Vorteil sein würde. Während dies in der Theorie vernünftig klingt – und die Begründer dieser Ideologie mögen mit dem Eigeninteresse als Motivator recht gehabt haben – waren sie auf tragische Weise so naiv wie Frankenstein. Sie haben ungewollt ein schreckliches Monster auf die Welt losgelassen.

Eigeninteresse ist die Währung des Marktes und untermauert die Strukturen der Unterdrückung, die wir nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in unseren zivilen Institutionen sehen. Als Thatcher und Reagan in den 1980er Jahren etwa zur gleichen Zeit an die Macht kamen, waren sie beide der gleichen Idee verpflichtet, die Lippmann, Hayek und Friedman vorschlugen: der Schaffung eines Marktes in jedem Bereich der Gesellschaft. Es war ein Glück, dass der NHS[3]National Health Service: das staatliche Gesundheitssystem in Großbritannien. bereits etabliert war, sonst würde Großbritannien heute unter der gleichen privatisierten Gesundheitsindustrie leiden, die derzeit dazu führt, dass Millionen von Amerikanern krank bleiben, weil sie arm sind.

In Großbritannien begann Thatchers Bildungsminister Kenneth Baker mit der Einführung des nationalen Lehrplans im Jahr 1988 den Prozess der Schaffung eines Marktes im Bildungssektor. Ein standardisierter Lehrplan bedeutete standardisierte Tests. Als Thatchers Nachfolger John Major die Aufgabe abschloss, indem er Schulranglisten einführte, war der Bildungsmarkt geboren. Die Eltern konnten nun sehen, welche Schulen besonders leistungsfähig waren. Die wohlhabenderen und besser gestellten Mitglieder der Gesellschaft hatten die Möglichkeit, Immobilien in der Nähe von leistungsstarken Schulen für ihre Kinder zu erwerben. Dies führte zu einer Ghettoisierung von Gemeinden entlang wirtschaftlicher Linien, in denen Schulen, die in den Ranglisten bereits schlecht abschnitten, zu Zentren sozioökonomischer Benachteiligung wurden.[4]https://blogs.lse.ac.uk/politicsandpolicy/school-house-prices-gibbons/ Wie kann man von den Schülern dieser Schulen – von denen viele kostenloses Mittagessen erhalten und mit den Herausforderungen der Armut konfrontiert sind – erwarten, dass sie mit Kindern konkurrieren, die in alle möglichen sozialen und wirtschaftlichen Vorteile hineingeboren wurden? Die Struktur oder Institution ist unterdrückerisch, und indem wir an sie glauben, unterstützen wir nicht nur stillschweigend diese Unterdrückung, sondern halten auch die Ideologie aufrecht, die ihr zugrunde liegt.

Paulo Friere erklärt in seinem Buch „Pädagogik der Unterdrückten“, der größte Triumph des Unterdrückers bestehe darin, die Unterdrückten in ihren Denkmustern gefangen zu halten. Die Unterdrückten verbringen ihre Zeit damit, sich Lösungen auszudenken, von denen sie glauben, sie trügen dazu bei, ihre Unterdrückung zu beenden, aber sie enden immer damit, dass sie unwissentlich genau die Strukturen aufrecht erhalten, in denen sie gefangen sind. Wenn muslimische Eltern privaten Koranunterricht für ihre eigenen Kinder arrangieren und Kinder aus ärmeren Familien zurücklassen, nähren und fördern sie ungewollt dieselben Ideologien und Strukturen, die zur Unterdrückung führen. Ich habe mit vielen Menschen über diese Themen gesprochen, und sie können sich leider keine Alternative vorstellen, weil, wie Friere erklärt, ihr Verstand nur innerhalb des vom Establishment konstruierten Rahmens nach Lösungen suchen kann. Wenn wir aber ausschließlich an den Prinzipien unseres Glaubens festhalten und danach handeln würden, würden wir mit Sicherheit Lösungen finden, die nicht nur der Mehrheit der Menschen zugutekommen, sondern auch das Narrativ des Islams grundlegend verändern.

Die Macht der Ideologie zu unterschätzen, heißt, den Untergang heraufzubeschwören. Man kann ein Gebäude nicht auf einem Sumpf errichten, es wird niemals fest stehen. Um unsere islamischen Werte und Ideale etablieren zu können, muss man zuerst den Sumpf trockenlegen und dann den Boden dafür bereiten. Die Ideologie des Neoliberalismus hat das islamische Narrativ verdrängt, und wie „praktizierend“ wir auch zu sein glauben, sie kontrolliert im Grunde die Art und Weise, wie wir denken und uns in der Welt verhalten. Es ist wenig wert, theoretisch über den Glauben zu reden oder seine praktische Umsetzung auf die rituelle Anbetung zu beschränken – wir müssen entschlossen sein, ihn zu einem Teil aller Aspekte der Gesellschaft werden zu lassen. Der Prophet (sall Allāhu ‚alayhi wa sallam) sagte, dass der Wolf das einsame Schaf frisst.[5]Abū Dāwud, al-Nasāʾī and Aḥmad Für ein Establishment, das entschlossen ist, uns im Sumpf des Individualismus gefangen zu halten, bleiben wir eine leichte Beute. Aber in dem Moment, in dem wir unseren Egoismus und unsere Gier überwinden und erkennen, dass unsere wahre Größe in unserem Zusammenhalt liegt, werden wir in der Lage sein, den Sumpf trockenzulegen und die strahlenden Werte unseres Glaubens zu vermitteln. Wir werden dann wieder eine Gesellschaft schaffen, durch die die Menschen auf der ganzen Welt in Ehrfurcht vor der Größe, Schönheit und Gerechtigkeit des Islams stehen werden.

Die Ansichten, die auf Muslim-Revival.de und den damit verbundenen Kanälen wiedergegeben werden, geben zu allererst die Ansicht der Autoren wieder und entsprechen nicht unbedingt den Ansichten der Verantwortlichen.

Quelle: www.islam21c.com

Fußnoten

Fußnoten
1, 2 Sahih Muslim
3 National Health Service: das staatliche Gesundheitssystem in Großbritannien.
4 https://blogs.lse.ac.uk/politicsandpolicy/school-house-prices-gibbons/
5 Abū Dāwud, al-Nasāʾī and Aḥmad

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