Zeit: Das stetig schwindende Kapital

Spiritualität Theologie

„Beim Zeitalter! Der Mensch befindet sich wahrlich in Verlust, außer denjenigen, die glauben und rechtschaffene Werke tun und einander die Wahrheit eindringlich empfehlen und einander die Standhaftigkeit eindringlich empfehlen.“ [1]Q103.

Diese Sure ist zweifellos vielen Lesern bekannt, denn sie wird häufig in unseren Gebeten rezitiert und gehört zu den kürzesten Suren des Qur’ān. Trotz ihrer Kürze werden wir – wenn wir über ihre Bedeutung nachsinnen – zahlreiche Lehren und Vorzüge entdecken, die wir daraus ableiten können. Imām al-Shāfiʿī kommentierte sie einmal wie folgt:

„Hätte Allāh nichts außer dieser Sūrah herabgesandt, hätte sie allein genügt, da sie alles erforderliche Wissen enthält.“ [2]Tafsīr Ibn Kathīr 1/203.

Von den vielen Aspekten, über die wir nachsinnen können, findet sich einer gleich im ersten Vers, und zwar in zwei Worten: „Beim Zeitalter“. Von allem, was in den Himmeln und auf der Erde existiert, leistet Allāh in diesem Vers einen Schwur auf die Zeit. Hast du dich jemals gefragt warum? Ein Eid ist von geringem Wert, es sei denn, er wird auf etwas Prachtvollem, von hoher Bedeutung geleistet. Welche Bedeutung hat also die Zeit?

Einfach ausgedrückt: Zeit gehört zu den größten Segnungen Allāhs. Das bekannte Sprichwort „Zeit ist Geld“ wird ihrem wahren Wert nicht annähernd gerecht, denn in Wirklichkeit ist sie weitaus mehr als das. Beunruhigenderweise kommt hinzu, dass sie stetig und unaufhaltsam schwindet und unserem Zugriff entgleitet. Was vergangen ist, kann nie wieder zurückgewonnen werden! Umgekehrt jedoch haben wir noch die Möglichkeit, das Beste aus dem zu machen, was vor uns liegt.

Der Prophet (s.) sagte:

„Nutze fünf vor fünf: das Leben vor dem Tod, die Gesundheit vor der Krankheit, die Freizeit vor der Beschäftigung, die Jugend vor dem Alter und den Wohlstand vor der Armut.“ [3]Al-Hākim, Mustadrak.

In einer anderen Überlieferung warnt uns unser geliebter Prophet (s.), dass viele von uns diesen gewaltigen Segen von Allāh vernachlässigen, indem er sagt:

„Es gibt zwei Segnungen, welche viele Menschen verschwenden und vernachlässigen: Gesundheit und Freizeit.“ [4]Bukhāry.

Wir sollten uns alle fragen: Wie geben wir dieses Gut aus, welches so gewaltig ist, dass Allāh, der König der Könige, einen Schwur darauf ablegt? Gehören wir zu denen, vor denen der Prophet (s.) gewarnt hat, die den Kürzeren ziehen würden, oder geben wir der Zeit ihr gutes Recht?

Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland liegt derzeit bei knapp 81 Jahren. Es mag so aussehen, als hätten wir reichlich Zeit, um eine große Menge guter Taten anzusammeln. Aber schlüsseln wir das mal weiter auf: Die ersten etwa 16 Jahre betrachten wir als Kindheit; etwa 20 Jahre verbringen wir im Schlaf. Darüber hinaus verbringen wir viele Stunden am Tag bei der Arbeit oder im Berufsverkehr und sind mit niederen Tätigkeiten wie Essen und Putzen beschäftigt; all das summiert sich zu einer weiteren Anzahl von Jahren.

Wenn wir noch weiter zurückgehen, wissen wir, dass Generationen über Generationen seit Jahrhunderten in ihren Gräbern liegen, und wenn wir schließlich wieder auferstehen, wird der Tag des Gerichts 50.000 Jahre dauern, bevor wir in unsere endgültigen, ewigen Aufenthaltsorte eingehen werden. Vor diesem Hintergrund ist unsere Zeit in dieser Welt wahrhaft kurz und kann nicht verschwendet werden; zumal sie bestimmt, was als Nächstes kommt.

Diese temporäre Natur wird uns in einem anderen Hadīth in aller Deutlichkeit vor Augen geführt. Der Prophet (s.) sagte:

„Die reichste Person in dieser Welt, die für die Hölle bestimmt ist, wird am Tage des Gerichts gebracht, einmal in das Höllenfeuer getaucht und dann gefragt werden: „O Sohn Adams! Hast du jemals etwas Gutes gesehen, hast du jemals Glückseligkeit genossen?” Er wird sagen: „Bei Allah! Niemals, o mein Herr!` Dann wird die ärmste Person in dieser Welt, die für das Paradies bestimmt ist, gebracht und einmal in (die Wonne des) Paradieses getaucht und dann gefragt werden: „O Sohn Adams! Hast du jemals Leid gesehen, hast du jemals Armut erlebt?” Er wird sagen: „Bei Allah! Ich habe niemals Leid gesehen oder Armut erlebt.” [5]Sahih Muslim.

Dies ist die Realität unserer Existenz in dieser Welt. Ein Bruchteil eines Augenblicks im Jenseits und die Dunya ist völlig vergessen. Daher müssen wir unsere Zeit dem Erfolg im Jenseits widmen und wir sollten alle danach streben, produktiv und aktiv nach Gelegenheiten zu suchen, das Wohlgefallen unseres Herrn zu erstreben. Muslime sollten aufgrund der Tatsache, dass wir wissen und verstehen, dass dieses Leben vorübergehend ist, die produktivsten Menschen sein – in allen Aspekten des Lebens.

Natürlich kann die Hektik des Alltags im Westen oft energieraubend sein und viele von uns tun sich schwer, über die Runden zu kommen, selbst mit Überstunden. Daher ist es nur natürlich, dass auch wir Ruhe und Entspannung brauchen. Aber Allāh ist al-Karīm – wir können für jede erlaubte Tat Belohnung erlangen, auch für das Entspannen und Schlafen, je nach unserer Absicht, wie im Folgenden kurz besprochen wird.

Lass uns nun einige praktische Realitäten und mögliche Lösungen betrachten, um unsere Zeit besser zu nutzen.

Erstens: Wenn wir uns dabei ertappen, wie wir eine Sünde begehen, was auch immer es sein mag, sollten wir so schnell wie möglich erlaubte Alternativen finden, damit die Zeit nicht gegen uns spricht. Und wir müssen daran denken, dass wir nicht nur dafür verantwortlich sind, wie wir unsere Zeit verbringen, sondern auch, wo wir sie verbringen. An einem Ort zu sitzen, der Allāh missfällt, selbst wenn wir in diesem Moment nicht wissentlich eine bestimmte Sünde begehen, ist durchaus eine brisante Angelegenheit – in der Berufswelt etwa müssen wir besonders vorsichtig sein, wenn jemand zu einem Drink mit seinen Kollegen eingeladen wird.

Wenn wir gesegnet genug sind, um auf die verpflichtenden Taten zu achten und uns zu bemühen, uns von der Sünde fernzuhalten, dann lasst uns versuchen, unsere guten Taten und Absichten zu vermehren. Wir sollten in keinem Stillstand verharren, da das Mindeste, wozu der Shayṭān uns verleiten will, darin besteht, eine gute Tat für eine weniger gute oder für eine Sünde zu verlassen. Das wird er ununterbrochen in Angriff nehmen. Wir begegnen ihm durch das Gegenteil, indem wir ständig Wege finden, die Belohnung in unserer Zeit und unseren Handlungen zu maximieren!

Diejenigen, die in ihrem täglichen Leben beschäftigt sind, müssen daran denken, dass Allāh unsere Zeit segnen und vermehren kann, wenn wir uns bemühen, sie weise zu nutzen. Einfache Wege, mit denen wir unser Konto der guten Taten inshāAllāh füllen können, sind:

⌛ Regelmäßiges Gedenken an Allāh und Seine Segnungen auf uns, Istighfār (um Vergebung bitten), und das Sprechen von Segenswünschen für unseren Propheten (s.). Diese Äußerungen der Zunge können zu fast jeder Zeit gesprochen werden, ob wir bei der Arbeit sind oder während der Leerlaufzeit (z.B. beim Pendeln); sie wiegen zweifellos schwer auf unserer Waage der guten Taten.

⌛ Mehr Zeit mit dem Qur’ān verbringen: mit seiner Rezitation, seinem Auswendiglernen und natürlich in seiner Reflexion. Egal wie beschäftigt wir sind, es muss eine festgelegte, zugewiesene Zeit für unsere tägliche Beschäftigung mit dem Qur’ān geben. Und dies ist keineswegs eine Last, sondern vielmehr eine Quelle der Leitung, des Friedens, der Zufriedenheit und sogar der Entspannung.

⌛ Vermeide übermäßigen Schlaf: die Reduzierung des Schlafs um nur eine halbe Stunde pro Nacht entspricht fast 8 ganzen zusätzlichen Tagen im Jahr. Das heißt, 8 freie Tage, nicht Tage, an denen man zur Arbeit geht oder nachts schläft oder mit anderen Dingen beschäftigt ist, sondern völlig freie Tage, die man für gute Taten, Zeit mit dem Qur’ān, Besuche bei Verwandten und Kranken, Wohltätigkeitsarbeit usw. nutzen kann.

⌛ Schlafe mit der Absicht, Ruhe zu erlangen, um den nächsten Tag mit produktiver Arbeit zu verbringen, mit dem Verdienst deines Rizq oder mit dem Aufwachen zum Qiyām oder Fasten usw. Auf diese Weise werden wir Belohnung erlangen und die Jahre, die wir scheinbar durch Schlaf verlieren, als etwas Großes auf unserem Konto der guten Taten wiederfinden.

⌛Erinnere dich daran, dass Allāh uns für diese Zeit belohnen wird, wenn wir bei jeder Handlung etwas Gutes beabsichtigen. Zur Arbeit zu gehen könnte mit der Absicht gepaart werden, eine halāle Versorgung für die eigene Familie zu verdienen und in Wohltätigkeit zu verbringen. Zeit mit seiner Familie zu verbringen kann mit der Absicht einhergehen, die verwandtschaftliche Bande zu stärken. Sich mit Freunden zu treffen, kann mit der Absicht formuliert werden, die Brüderlichkeit zu stärken und Da’wah zu machen. Es gibt unzählige Beispiele, aber der Schlüssel ist wahrhaftig zu beabsichtigen, was unserem Schöpfer gefällt und sich an diese Absicht auch während der Tat zu erinnern!

⌛ Sei pro-aktiv im Umgang mit der Zeit auf der Arbeit. Während der Wintermonate müssen viele während der Arbeitszeit Dhuhr, ʿAsr und Maghrib beten und könnten sich schwer tun, kollidierende Meetings zu vermeiden oder sich unwohl fühlen, ihre Arbeit jeden Tag „unterbrechen“ zu müssen. Wir alle wissen, dass unsere Gebete unsere höchste Priorität sind. Daher sollten wir sicherstellen, dass wir eine etablierte Routine haben, die unseren Kollegen wohl bekannt ist. Ebenso ist es wichtig, eine kürzere Mittagspause zu machen, um zu gewährleisten, dass wir nicht mehr Pausen gemacht haben, als uns von unserem Arbeitgeber zusteht.

⌛ Betrachte die Zeit, die wir mit Reisen für irgendeinen weltlichen Nutzen verbringen, und bewerte, ob es stattdessen (oder zusätzlich) eine bessere Alternative gibt, die unserer Ākhirah zugute kommt. Vielleicht wären wir bereit, zu einem weiter entfernten Geschäft zu fahren, um etwas Geld zu sparen, aber ist das gesparte Geld die verlorene Zeit wert? Wenn wir es nicht aus der Not heraus tun, sollten wir es auf jeden Fall in Erwägung ziehen. Eben diese Zeit mit dem Qur’ān zu verbringen, nach Wissen zu streben oder sich ehrenamtlich zu engagieren, wird uns am Tag des Jüngsten Gerichts helfen, wohingegen diese Ersparnisse, wenn sie nicht aus einer Notwendigkeit heraus geschehen, wahrscheinlich keinen Nutzen haben – es sei denn, es wäre, um Almosen zu geben.

⌛ Betrachte schließlich die Zeit, die wir aktuell an unseren Smartphones, auf Facebook, YouTube oder vor dem Fernseher verbringen. Wie viele von uns finden Zeit, um jede Woche stundenlang Netflix zu schauen, aber kämpfen damit, Zeit zu finden, um den Qur’ān zu lernen oder nach Wissen zu streben? Obwohl all diese Formen von Medien einen gewissen Nutzen haben, sollten wir uns fragen, welchen Anteil unserer Zeit wir tatsächlich für nützliche Dinge aufwenden? Wir werden feststellen, dass wir leichtsinnig Zeit verschwenden und möglicherweise sündigen, wenn wir uns mit Dingen beschäftigen, die uns nicht betreffen.

Dies sind nur einige der vielen Schritte, die wir unternehmen können, um unsere Zeit besser zu nutzen, inshāAllāh. Wir beten, dass Allāh uns befähigt, in jedem Moment des Lebens, mit dem Er uns segnet, Sein Wohlgefallen zu erlangen. Amīn.

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Quelle: www.islam21c.com

Fußnoten

Fußnoten
1 Q103.
2 Tafsīr Ibn Kathīr 1/203.
3 Al-Hākim, Mustadrak.
4 Bukhāry.
5 Sahih Muslim.

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